Das Pferd als Rangierlokomotive

In den zeitgenössischen Publikationen über die Fortschritte der Eisenbahn finden sich verständlicherweise meist Beschreibungen über die neuesten technischen Erfindungen, Hilfsmittel und allerlei sinnreiche Apparaturen. Über die Disqualifizierung der mit zwei Pferden im Inneren beim berühmten Rainhill-Lokomotivrennen (6. – 14.10.1829) vor sich hin trabenden „The Cycloped“ (siehe das untenstehende Bild) [1, Link] ist hinreichend oft geschrieben worden.

 

Dass aber des Dampfwagens Vorgänger im Landtransport sich noch gute dreißig Jahre nach der Eröffnung der ersten deutschen Dampfeisenbahn nicht nur im Eisenbahnbetrieb halten konnte, sondern auch, zumindest vereinzelt, als wirtschaftlich sinnvoller Ersatz des Lokomotiveinsatzes angesehen wurde, ist relativ unbekannt.

 

Die berühmte Ludwigs-Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth, deren erste Lokomotive „Adler“ allgegenwärtig durch die Literatur fährt, sah sich in den ersten Betriebsjahren einer Übermacht von zwölf Pferden gegenübergestellt, die immerhin sieben von zehn täglichen „Zug“-Paaren zu gemütlichen Kutschfahrten machten. [2]

 

1_3_Bay_1912_Adler_ Lith. Kgl.Bayer.Verkehrsmuseum. Lichtdruck W.Biede Nürnberg
1_3_Bay_1912_Adler_ Lith. Kgl.Bayer.Verkehrsmuseum. Lichtdruck W.Biede Nürnberg

Die dort eingesetzten Kutscher wurden viel geringer bezahlt als die geradezu fürstlich entlohnten  Dampfwagenführer. Ihr geringeres Ansehen ging allerdings einher mit einer halb so umfangreichen Sammlung von Anweisungen, die unter Punkt V.  im Bahnreglement vom 12. November 1844 genauer aufgeführt waren. [3] [4, Link]

 

 „Die Kutscher haben vor jeder Abfahrt den Zustand des Geschirrs, Anspanns und der Wagen zu untersuchen und sind für jeden aus einer Vernachlässigung dieser Pflicht entstehenden Schaden und Nachtheil verantwortlich: sie haben nachzusehen, daß die Wagen gehörig geschmiert sind, und zu verhüten, daß kein Pferd zu sehr angestrengt werde. Sobald sie an einem Pferde Vorzeichen einer Krankheit wahrnehmen, dürfen sie es nicht mehr einspannen, und haben Anzeige davon zu machen. Sie haben unterwegs mit größter Aufmerksamkeit auf den Gang der Pferde und auf die Perspektive der Bahn zu achten. Wenn sie auf der Bahn eine Unregelmäßigkeit entdecken, oder Wagenstöße fühlen, so haben sie solches Anzuzeigen.“

 

Bildzitat aus einem Kupferstich der Ludwigsbahn um 1835.

 

Wurden Unternehmen wie beispielsweise die zum Transport der Ruhrkohle ins Wuppertal 1831 eröffnete Prinz-Wilhelm-Bahn [5] oder die 1848 eröffnete Waltershäuser Pferdebahn [6, Link] unmittelbar als solche konzessioniert, gebaut und betrieben, so scheint der Einsatz der edlen Rösser als Rangiermittel manch einer Bahngesellschaft recht und vor allem billig gewesen zu sein.

 

In den Erläuterungen zur Erweiterung der Prinz Wilhelm Bahn um 1840 rechnete man mit „60 Pferden incl. Geschirr mit 150 Thalern je Thier“ (gesamt 9.000Thlr.) und einem Verschleiß in vier Jahren zu 2.250Thlr. jährlich.

 

Über die einzelnen Details zu den eigentlichen Pferdebahnen, zu denen auch die von Pferden gezogenen Tram/Staßenbahnen zählen, gibt, nebst ausführlichen Berechnungen der tierischen Zugkraft, ein Artikel in der deutschen Wikipedia Auskunft  [7, Link].

 

Außerdem gibt es viel sehenswertes zum Thema Pferdebahnen im

Atlas zum Handbuch für specielle Eisenbahntechnik Bd.5 aus dem Jahre 1877 _ [7a LINK].

Dort kann über die entsprechenden Oberbauarten, Wagentypen und auch andere nötige Dinge in alten Stichen schwelgen. Solche Bücher sind ein Kunstwerk für sich!

 

Zum Themenabschluß der eigentlichen Pferdebahnen noch ein Bild aus dem Jubiläumsband "100 Jahre Deutsche Eisenbahnen" welches ein Gespann der Pferdebahn Budweis-Linz zeigt, dessen Modell im Deutschen Museum in München gezeigt wird.

 

Bedeutende Eisenbahnen erstatteten noch bei einer 1878 vom „Organ für die Fortschritte des Eisenbahnwesens“ durchgeführten Befragung zu Verwendung von Pferden beim Rangieren darüber Bericht.

 

Wurden bei einigen dieser Gesellschaften, wie der Altona-Kieler Bahn nur „ausnahmsweise ein Pferd requirirt“, so sind es bei der Bergisch Märkischen Bahn gleich eine größer Anzahl von Tieren. Bei letzterer Bahn vertrat man ohnedies die vielerorts vorherrschende Meinung, das der Verschub einzelner Wagen respektive kleiner Wagengruppen in bestimmten Betriebssituationen, wie zum Beispiel der Bedienung eines Eilgutschuppens, beim Rangieren von Personenwagen und ähnlichen (Betriebs-)Verhältnissen bis zu einer Frequenz von 30 bis 40 Wagen pro Tag Pferde mit „Vortheil benutzt“ werden.[8]

 

Die Thüringische Bahn beschreibt das wie folgt: „Diesseitige Verwaltung verwendet nur ein Pferd auf der Station Halle (Personenbahnhof) zum Rangiren; dasselbe wird benutzt zum Umsetzen der in den Personenzügen nach Berlin übergehenden Postwagen, zum Abziehen und Anschieben von Wagen für die Personenzüge, sowie zum Rangiren der zur Kohlebühne und zur Werkstätte gehenden Wagen. Während dieser Arbeit ist ein Mann erforderlich zum An- und Abhängen der Ketten und ein Mann (Knecht) welcher das Pferd führt. Ohne Pferd würde mindestens 5 Mann zu dieser Arbeit erforderlich sein und könnten die Bewegungen der Wagen nicht so schnell ausgeführt werden, als mit demselben. 

 

Eine Art Spitzenstellung im Rangierdienst mit Pferden besaß indes der durchaus nicht kleine Bahnhof Mochbern bei Breslau, wo man 1881 den bis dato herrschenden Lokomotiv- auf Pferdebetrieb umstellte.[9, Link] Detaillierte Vergleiche zur Wirtschaftlichkeit der beiden Betriebsarten hatten neben den real anfallenden Kosten von 40 Mark für eine Lokomotive nebst Personal und Unterhalt gegenüber nur 37,80 Mark für die sie ersetzenden 6 Pferde mit Personal und Geschirr weitere freilich nicht konkret bezifferbare Vorteile des Einsatzes von Pferden ergeben wie den günstigen Einfluss auf das rollende Material und die Ladung durch den Fortfall heftiger Stösse, ferner die viel geringere Gefahr, der die Rangirer in ihrer Thätigkeit ausgesetzt sind, und endlich den erheblich geringeren Verschleiss an Bahnhofsgeleisen und Weichen.

 

Das die Bewährung der Huftiere zum oben erklärten Nutzen der Bahnen nicht unbedingt dazu nötigte sich den Mühen der Pferdepflege zu unterziehen belegen die Meldungen der Thüringischen Bahn, wie auch der Kgl.Preußischen Ostbahn, welche sich den heute so beliebten Outsourcing und Leasingverfahren bedienten:

 

Thüringische Bahn – „Der Besitzer des Pferdes erhält für dasselbe und für den Knecht pro Tag 7,5 Mark. Im Sommer arbeitet das Pferd von 5 Uhr früh bis 7 Uhr Abends, im Winter von 6 Uhr früh bis 6 Uhr Abends. Das Rangieren mit den Pferden hat sich in Halle seit langen Jahren  sehr gut bewährt.“

 

Preussische Ostbahn – „Die erforderlichen Pferde stellt ein Privatmann je nach Bedürfnis und wird dasselbe für die wirkliche Leistung stundenweise bezahlt.“

 

 

 

 

 

 

 

Im Geschäftsbericht der Düsseldorf-Elberfelder Eisenbahn-Gesellschaft findet sich für die im "Mischbetreb" auf Schiene und Straße eingesetzten Pferde in Düsseldorf auf der Schleppbahn zum Hafen die Anzahl von 8 Pferden. [15]

Und damit nun niemand glaubt die „Zossen“ würden eine schwache Leistung abliefern, sei ein Artikel aus dem Jahrgang 1888 des „Organs für die Fortschritte des Eisenbahnwesens“ (S. 169)[10] zitiert:

 

„Elastische Ketten zum Anschirren der Verschiebdienstpferde“ – Bei der französischen Ostbahn sind seit 6 Jahren in die Ketten zum Anschirren der Verschiebdienstpferde an die Eisenbahnwagen Wurstspiralfedern (in einer langen Schake hinter dem Anschlusshaken gelagert)eingeschaltet worden, wodurch eine beträchtliche Schonung der Thiere erreicht worden ist. Die freie Länge der Federn beträgt 250mm, die Kürzung für 100kg 5,5mm, das Gewicht der Feder 0,885kg, deren mittlere Dauer 3 Jahre, und der jährliche Unterhaltungsaufwand 1,8M. Die größte beim Verschieben mit Pferden aus diesem Anlasse beobachtete Zugkraft betrug 800kg.“

 

Hier wird Bezug auf einen Artikel aus der "Révue générale des chemins de fer" aus dem Februar 1888 genommen, deren Digitalisate ebenfalls im

Netz [11, Link] zu finden sind.

0_0_frz_1888.02. Revue gener. des chemin de fer_Celler_Wurstspiralfeder
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Nicht nur die großen Eisenbahngesellschaften haben sich der Pferdekräfte bedient, sondern auch einzelne Fabriken haben auf ihren Werksbahngleisen Rösser eingesetzt.

 

So setzte die Bergische Stahlindustrie in ihrem großen Werk in Remscheid für den innerbetrieblichen Materialtransport neben der „Manpower“ der Arbeitskräfte belgische Rotschimmel (schwere Kaltblüter) [12], sowohl auf dem 700mm Schmalspurnetz, als auch auf den Normalspurgleisen ein, bevor dann für die Normalspur ab 1896 die erste Werklokomotive zur Verfügung stand.

 

Im Bild rechts die BSI Lok 1, welche übrigens von Firma Krauss/München (Fbr.-Nr.3302) 1896 auf der II. bayerischen Landesausstellung in Nürnberg gezeigt wurde, dort von der BSI für 13.800 Mk. gekauft und am 02.11.1896 im Remscheid angeliefert wurde. Im umfangreichen Unterlagenbestand der BSI fand sich leider keine Abbildung der eingesetzen Pferde.

 

Über die Bauart der hier besprochenen "Loktypen" gibt es auch im Netz vielerlei Seiten, die auch den oft gehörten und wiederholten Irrtum aufklären, das Kaltblüter [13, Link] eine niedrigere Körpertemperatur als ihre warmblütigen Artgenossen vorweisen können. Die „Betriebstemperatur“ liegt für gewöhnlich bei beiden Hauptgruppen um 38°C und die „Temperaturangabe“ ist folglich eher eine „Temperamentangabe“.

 

 

Die oben erwähnten, bei der BSI verwendeten, belgischen Rotschimmel sind auch unter der Bezeichnung  „Brabanter“ [14, Link] bekannt und zeichneten sich durch einen besonders ruhigen Charakter, somit leichter Führbarkeit, sowie einem sehr starken Körperbau und großer Kraft aus. Die Brabanter dienten wegen Ihrer exzellenten Eigenschaften in weiteren Zuchtbemühungen vielen anderen Kaltblutrassen als Grundlage.

 

 

 

 

Damit man sich das Geschriebenen auch besser vorstellen kann, haben die findigen Briten, im Mutterland der Eisenbahn, in einem höchst sehenswerten Film dokumentiert, dass das Rangieren mit Pferden sogar noch bis in die Mitte der sechziger Jahre des 20.Jahrhundert durchgeführt wurde:

 

 

http://www.britishpathe.com/video/shunting-horse

 

 

 

Eine zugegebenermaßen tierische Geschichte, aber ich hoffe es hat etwas Spaß gemacht den Überlegungen unserer Vorfahren im Sinne des wirtschaftlichen Einsatzes der Betriebsmittel zu folgen.

Literatur- und Quellenangaben:

 

(Internetabruf vom 10.05.2016)

 

Erweiterter Artikel aus dem Buch: Fundstücke -  Amüsantes und Interessantes aus der Welt der Eisenbahn 1833 – 1918, H.D. Dammann, K. Kaiß, M. Peplies, Verlag A. Kaiß, Leichlingen 2008, ISBN: 978-3-9809357-7-7

 

(ist beim Verlag noch zu bekommen!, A.Kaiß, Am Hüpplingsgraben 10c, 42799 Leichlingen)

 

 

[1] englische Wikipedia: https://en.wikipedia.org/wiki/Cycloped

 

[2] Zur fünfzigjährigen Jubelfeier der ersten deutschen Locomotiv-Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth.

 

In Zentralblatt der Bauverwaltung v.05.12.1885

 

[3] Bekanntmachung der oberen Kreis und Staatsbehörde, vom 16.Nov.1844,
Polizei-Vorschriften über den Betrieb und das Befahren der Nürnberg Fürther Ludwigs Eisenbahn

[4] Bekanntmachung des Direktorium der Königl. Bayer. priv. Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft vom 22.Jan.1836

 

http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:kobv:109-opus-21396

 

[5] Die Prinz-Wilhelm-Bahn, J.R. Busch, H.G. Deilmann, Essen 1992

 

[6] Von der Waltershäuser Pferdebahn zur Waldsaumbahn - 1848 1998, Verlag Rockstuhl ISBN: 392900089X  Weisser, M. und M. Möller

 

http://www.waldsaumbahn.de/pferde.htm

 

[7] Pferdebahn, deutsche Wikipedia,

 

https://de.wikipedia.org/wiki/Pferdebahn

 

[7a] Atlas zum Handbuch für specielle Eisenbahntechnik Bd.5 aus dem Jahre 1877

 

https://archive.org/details/bub_gb_jS9y17aXbeAC

[8] „Organ für die Fortschritte des Eisenbahnwesens“, Wiesbaden 1878, Suppl. VI, Seiten 375 ff

 

[9] Über das rangiren mit Pferden.

 

In Zentralblatt der Bauverwaltung. Ausgabe IV. 1884, No. 43 – 

 

[10] Elastische Ketten zum Anschirren der Verschieb Dienstpferde

 

In Organ für die Fortschritte des Eisenbahnwesens Jahrgang 1888, Seite 169

Abbildungen dazu,  siehe unter [11]:

 

[11] Révue générale des chemins de fer, Februar 1888, von Ing. M.A. Celler

 

http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6496102p/f123.highres

 

http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6496102p/f124.highres

 

[12] "Geschichte der BSI", Wilhelm Rees, unveröffentlichtes Manuskript im Stadtarchiv Remscheid

 

[13] "Kaltblüter" - wikipedia

 

https://de.wikipedia.org/wiki/Kaltblüter_Pferd

[14] "Brabanter" - wikipedia

 

https://de.wikipedia.org/wiki/Brabanter

 

[15] Geschäfts-Bericht der Direction der Düsseldorf-Elberfelder Eisenbahn-Gesellschaft für das Jahr 1856

 

http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/periodical/structure/1428692

 

 

 

Bei auftretenden Fragen oder auch interessanten Anmerkungen besteht über einen Eintrag im Gästebuch oder eine Mail an

 

mail ät vauhundert.de

 

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